MS-Perspektive - der Multiple Sklerose Podcast podcast

#103 – Interview mit Dr. Klehmet zu schubassoziierten Symptomen, Vorbeugung weiterer Schübe und dem Verhindern permanenter Defizite

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Dr. Klehmet spricht über schubassoziierte MS-Symptome, die Vorbeugung weiterer Schübe und wie man permanente Defizite bei MS verhindert.

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https://ms-perspektive.de/interview-mit-dr-klehmet-zu-schubassoziierten-symptomen-vorbeugung-weiterer-schuebe-und-dem-verhindern-permanenter-defizite/

In Folge 103 vom MS-Perspektive Podcast begrüße ich PD Dr. med. Juliane Klehmet. Sie ist ärztliche Leiterin vom MS-Zentrum am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Wir sprechen über schubassoziierte MS-Symptome. Wie man Schüben der Multiplen Sklerose am besten vorbeugen und wenn es doch dazu kommt, permanente Defizite verhindern oder zumindest möglichst kleinhalten kann.

Vorstellung

Juliane Klehmet ist verheiratet mit einem Arzt und Mutter von zwei Kindern (12 und 14 Jahre). Die Freizeit verbringt sie sehr gern im Garten und mit Bücherlesen.

 

Wichtigste Stationen bis zur jetzigen Position?

Fachärztin in der Charité absolviert. Bis 2018 dort tätig gewesen im Bereich der Neuroimmunologie. Unter anderem untersuchte Dr. Klehmet Krebszellen und deren Autoaktivität. Klinisch arbeitete sie jahrelang in verschiedenen Spezialambulanzen, unter anderem der MS-Ambulanz der Charité. In 2018 übernahm sie dann die Leitung des MS-Zentrums am jüdischen Krankenhaus in Berlin.

Persönliche Motivation für den Beruf?

Aufgrund der Neuroimmunologie, was schon immer ein Schwerpunkt der Charité war. Die zunehmende Möglichkeit, die Krankheit behandeln zu können, war mit ein Grund, den Weg Richtung Multiple Sklerose einzuschlagen. Außerdem fand sie es spannend, dass sehr viel geforscht wird und dadurch immer mehr Therapieansätze entstehen, um MS-Patienten stetig besser behandeln zu können.

Wie viele MS-Patienten betreuen sie insgesamt pro Jahr ambulant?

Ambulant werden ca. 1.200 MS-Patienten behandelt, was zu rund 3.200 Patientenkontakten im Jahr führt.

Rückbildung schubassoziierter Symptome

Wie unterstützen sie ihre Patienten, damit sich MS-Symptome möglichst komplett zurückbilden?

Zunächst geht es darum, Patienten darüber aufzuklären, dass es zu Schüben kommen kann und das es wichtig ist, dass sich die Patienten dann zeitnah melden, damit wir reagieren können. Am Anfang bedeutet das oft Verunsicherung für die Patienten, weil gerade frisch diagnostizierte nicht wissen, ob gerade ein Schub vorliegt oder nicht. Dafür ist die Vorstellung vormittags in unserer MS-Ambulanz gedacht. Anhand der Anamnese oder eventueller Untersuchungen oder eines MRTs klären wir, ob es ein neuer Schub ist.

Das ist wichtig, weil wir die akute Schubtherapie frühzeitig einleiten müssen, sprich das hochdosierte Cortison. Die hoch antientzündliche Wirkung des Cortisons dämmt den Schub ein und hier gilt, je eher, desto besser. Wir überprüfen dann, wie gut das Cortison im Verlauf anschlägt. Eventuell muss eskaliert werden, was entweder eine doppelte Dosis Cortison ist. Und falls das auch nicht hilft, führen wir eine Plasmapherese durch. Das wird allerdings nur gemacht, wenn es um relevante Behinderungen, nicht bei Taubheitsgefühlen und Kribbeln.

Im Fall von Sensitivitätsstörungen bitten wir die Patienten um Geduld. Solche Symptome dauern oft Wochen bis Monaten bis sie sich zurückbilden. Da müssen sie dem Körper Zeit gegeben werden.

Bei motorischen Schüben spielt die unterstützende Therapie eine große Rolle, sprich Krankengymnastik, Ergotherapie, Logotherapie sind wichtige Faktoren bei der Rückbildung von Schüben.

Und natürlich ist die Unterstützung durch Partner, Familie und das persönliche Umfeld eine wichtige Komponente auf dem Weg der Genesung.

Gönnen sie sich im Falle eines Schubes Ruhe und Erholung, damit ihr Körper genug Energie hat sich zu regenerieren.

Wie lange dauert es bis sich Symptome zurückbilden?

Es sollte eine Dynamik erkennbar sein. Gerade bei Schüben, die durch motorische Symptome gekennzeichnet sind, wie Schwächegefühl und Lähmung, geht das schneller durch die Cortison-Behandlung, als bei sensiblen Schüben. Sensible Symptome dauern meist viel länger, eher Wochen oder Monate.

Bei der Sehnerventzündung geht es oft auch etwas langsamer, dennoch muss eine Dynamik erkennbar bleiben, ansonsten eskaliert man. Schließlich geht es um die Sehkraft und dort soll kein Defizit bleiben.

Vorbeugung weiterer Krankheitsschübe

Welche Elemente gehören zur Prävention von Schüben und können sie diese gewichten?

Die verlaufsmodifizierende Therapie ist der wichtigste Pfeiler für die Prävention von neuen Schüben und dem Verhindern von Läsionen im Gehirn. Damit soll verhindert werden, dass Nervenzellen untergehen oder sich auch bestehende Symptome verschlechtern. All diese Faktoren gehören zu den Zielen der MS-Behandlung – NEDA = No evidence of disease activity (keine Krankheitsaktivität – weder sichtbar, noch im Verborgenen).

Falls NEDA nicht gelingt, ist das ein Hinweis darauf, dass eine hochwirksamere Therapie begonnen werden sollte (siehe »Hit Hard and Early mit Prof. Schwab«). Indikatoren dafür sind schwere Schübe, Schübe, die sich nicht oder nur schwer zurückbilden, viele Schübe, eine hohe Läsionslast im MRT. Es zählen auch ungünstig gelegene Läsionen dazu, z.B. am Hirnstamm oder im Rückenmark. Wenn einer oder mehrere der Faktoren zutreffen, empfehlen wir eine hochwirksamere Therapie. Natürlich müssen immer Nutzen und Risiko gegeneinander abgewogen werden.

Feststeht, immer mehr retrospektive (rückblickende) Daten deuten darauf hin, dass durch den Einsatz verlaufsmodifizierender Medikamente, die Multiple Sklerose deutlich milder geworden ist. Und wenn MS-Patienten mit einem hochaktiven Verlauf frühzeitig in eine hochwirksame Therapie einsteigen, können sie die Krankheit stark abschwächen und eine bessere Langzeitentwicklung erzielen. Dabei ist die verlaufsmodifizierende Therapie gewiss die wichtigste Säule.

Natürlich gehören auch Lebensstilfaktoren dazu. Vermeiden sie Nikotin, es verschlechtert den Verlauf deutlich. Vitamin D spielt eine Rolle, weshalb eine ausreichende Substitution erfolgen sollte. Der genaue Zusammenhang ist bisher allerdings noch nicht geklärt. [Anmerkung Nele Handwerker: Daher bitte keine Hochdosiseinnahme.]

Die Ernährung sollte auf dem mediterranen Konzept basieren, viel Olivenöl und Gemüse, dafür wenig rotes Fleisch. Wenn Kohlenhydrate, dann ballaststoffreich.

Außerdem hat sportliche Betätigung viele positive Effekte, sowohl auf den Krankheitsverlauf, als auch das Wohlbefinden der Patienten. Durch Sport können Schmerzen und Fatigue reduziert werden. Zusätzlich bekommt man als Patient das Gefühl, aktiv etwas machen zu können und der Krankheit nicht nur ausgeliefert zu sein.

Deshalb empfehlen wir unseren Patienten von Anfang an, Sport zu machen. Auch im Hinblick auf das Gewicht. Denn Übergewicht wirkt sich ebenfalls eher negativ auf den Krankheitsverlauf aus. Übergewicht reduziert die Wirksamkeit von Medikamenten und verringert die Bildung von Vitamin D.

Permanente Defizite verhindern

Was können MS-Patienten tun, um permanente Defizite zu verhindern und wie unterstützen sie dabei?

Sport und Krankengymnastik sind sehr wichtig für Patienten, gerade mit Spastik-Symptomatik. Muskeln können sich versteifen, wenn sie nicht regelmäßig bewegt werden. Das wurde leider zum großen Problem in der Pandemie, als Behandlungen für Patienten ausfielen, die schwerer betroffen sind. Krankengymnastik und Sport sind wirklich wichtig.

Des Weiteren gehört eine ausreichende Versorgung mit Hilfsmitteln dazu. Die Hilfsmittel können sowohl unterstützen, aber auch am Anfang von auftretenden Problemen helfen, diese nicht größer werden zu lassen und Dysbalancen zu reduzieren bzw. diesen entgegenzuwirken. Auch Bewegungstrainer zuhause helfen. Leider erscheint es mir immer schwerer, diese Hilfsmittel bei der Krankenkasse durchzusetzen, obwohl es wichtig ist, frühzeitig gegenzusteuern und nicht erst, wenn die Einschränkungen unumkehrbar sind zu kompensieren.

Dauerhafte Einschränkungen kleinhalten

Wie versuchen Sie, entstandene Behinderungen gering zu halten und auf dem Level zu stabilisieren?

Physiotherapie ist gut. Bewegen sie sich möglichst viel.

Beim Thema kognitive Einschränkungen, wie Konzentrations- und  Gedächtnisstörungen ist es wichtig, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Nicht zuhause einigeln, sondern Arbeiten gehen, solange das möglich ist.

Aus ärztlicher Sicht schauen wir, dass wir das richtige Medikament einsetzen, sowohl für die verlaufsmodifizierende Therapie, aber auch die symptomatische Behandlung.

Antispastika, spielen eine große Rolle. Wenn die Spastik und vielleicht begleitende Schmerzen stark ausgeprägt sind, kann medizinisches Cannabis helfen.

Blasenstörungen müssen gut behandelt werden, aber auch Depressionen und Schmerzen.

Wichtig ist, dass sie als Patient diese Probleme ansprechen, damit sie behandelt werden können.

Eine begleitende Psychotherapie kann ebenfalls hilfreich sein, da die Psyche auf alle Bereiche – körperlich, geistig und seelisch – Einfluss hat.

Generell gilt, dass die alleinige Immuntherapie sicherlich bei einem Großteil der Patienten nicht allein reichen wird.

Blitzlicht-Runde

Vervollständigen Sie den Satz:
„Für mich ist die Multiple Sklerose… 

…eine Erkrankungen, die wir zunehmend besser verstehen, kein Grund ist zu verzweifeln, da immer mehr und bessere Optionen bestehen. Und wo ich gespannt bin, was wir in den nächsten Jahren noch an zusätzlichen Möglichkeiten bekommen, um Patienten noch besser zu unterstützen.“

Welche Internetseite können Sie zum Thema MS empfehlen?

Welchen Durchbruch in der Forschung und Behandlung zur MS wünschen Sie sich in den kommenden 5 Jahren?

Einen Biomarker, der mir sagt, welchen Patienten ich von Anfang an mit welchem Medikament am besten behandle. (Statt bisher eher ein ausprobieren, aufgrund der 1.000 Gesichter der MS.)

Bessere Behandlungsoptionen für die chronischen Verläufe, die den Untergang der Nervenzellen verhindern und gegen den degenerativen Verlauf gut anschlagen. Vermutlich wird es auf eine kombinierte Therapie herauslaufen.

Verabschiedung

Möchten Sie den Hörerinnen und Hörern noch etwas mit auf dem Weg geben?

Die MS ist keine Diagnose zum verzweifeln. Wenden sie sich von Anfang an an einen Experten, damit die richtige Therapie eingeleitet werden kann. Und leben sie möglichst so weiter, wie bisher.

Wie erreicht man das MS-Zentrum am Jüdischen Krankenhaus am besten?

Über die Webseite und am besten per E-Mail: sekretariat-neurologie[at]jkb-online.de oder per Telefon: 030 4994-2388.

Wichtig, wir brauchen eine Überweisung, damit wir mit unserer Arbeit beginnen können.

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Vielen Dank an Dr. Juliane Klehmet für das geführte Interview, die gebündelten Informationen und den positiven Zuspruch zum guten Umgang mit Multipler Sklerose.

Bestmögliche Gesundheit wünscht dir,
Nele

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